Zur Anwendung der Finite-Element-Methode in der Praxis

 - Fehlerquellen bei der Modellbildung und Ergebnisinterpretation -

 Prof. Dr.-Ing. Horst Werkle, 78476 Allensbach 
 Dipl.-Ing. Peter Bock, Peter & Lochner, Beratende Ingenieure VBI, 70184 Stuttgart 
 
Vortrag auf der 4. FEM/CAD-Tagung, Technische Universität Darmstadt, 1996

1. Einführung

Die Finite-Element-Methode stellt heute ein Standardverfahren für die statische Berechnung von Bauteilen, insbesondere von Decken dar. Gegenüber den herkömmlichen baustatischen Methoden handelt es sich bei der Finite-Element-Methode um ein hochentwickeltes und leistungsfähiges Werkzeug, dessen Anwendung aber auch besondere Statik-Kenntnisse erfordert. Wird die FEM - ohne die notwendigen Kenntnisse - als ´black-box´-Methode angewandt, sind Fehler häufig die Folge. Im Beitrag werden eine Reihe in der Praxis aufgetretener und bei der statischen Prüfung durch den Prüfingenieur aufgefundener Fälle von Fehlern bei der FEM-Anwendung behandelt. Die untersuchten Fälle zeigen, daß gewisse Grundlagenkenntnisse für einen sachgemäßen Umgang mit der Methode notwendig sind. Es wird versucht, die Fehlerquellen zu systematisieren und Hinweise zu geben, wie im Bürobetrieb Fehler vermieden werden können.

2. Modellbildung

Die FEM eröffnet die Möglichkeit, äußerst komplizierte Modelle statisch sehr detailliert zu untersuchen. Dadurch ergeben sich Fehlerquellen bei der Modellbildung, die bei einer konventionellen Berechnung mit einem vereinfachten statischen System nicht auftreten.

2.1 Unterzüge 

Die Modellbildung von Unterzügen, für die es mehrere Möglichkeiten gibt, erfolgt bei vielen Programmen nach der Eingabe der Geometriewerte automatisch. Wesentlich ist eine realitätsnahe Erfassung der Biegesteifigkeit unter Berücksichtigung der Exzentrizität [1]. Der Einspanngrad eines Unterzugs in einspannende Bauteile darf nicht zu hoch angesetzt werden.
 
Fallbeispiel 1: Ein Unterzug mit einer Höhe von ca. 80 cm wurde seitlich zu 100% ein­gespannt berechnet, obwohl der Unterzug an eine Platte mit nur 25 cm Dicke ange­schlossen war. Dadurch war die Feldbewehrung des Unterzugs erheblich unterbemessen worden. Die Einspannbewehrung wurde vom Programm mit dem inneren Hebelarm des Unterzugs bemessen, anstatt mit dem kleineren inneren Hebelarm der Platte. 
 

2.2 Modellbildung bei Balkonplatten

Beim Anschluß von Balkonplatten an Deckenplatten treten infolge der Drillmomente im Eckbereich erhöhte Momente auf (Bild 1).
 
 
 
System
Durchbiegungen
Hauptmomente
 
 Schnitt A-A
 
Bild 1: Allseitig gelenkig gelagerte Platte mit auskragender Balkonplatte
 
 
In der Praxis wird häufig der Schöck-Isokorb als tragendes Wärmedämmelement beim Anschluß von Balkonplatten verwendet. Aufgrund seiner Konstruktion kann der Isokorb ausschließlich Biegemomente in einer Richtung übertragen (Bild 2). Das statische Modell darf daher keine Übertragung von Drillmomenten zulassen. Dies erreicht man, indem man die Balkonplatte selbst nicht idealisiert und die Lasten aus dem Balkon als Linienlast und als Krempelmoment auf der Deckenplatte ansetzt. Ist zum Zeitpunkt der Berechnung noch nicht definitiv geklärt, ob Schöck-Isokörbe eingebaut werden, können sich der Fehler in der Modellbildung, bei nachträglichen Entscheidungen hierüber, leicht in die statische Berechnung "einschleichen".
 
 
 

Isokorb

 
 

Modellbildung

 
Bild 2: Schöck-Isokorb
 

2.3 Gebäudesteifigkeit bei Bodenplatten

Die Steifigkeit aufgehender Stahlbetonwände beeinflußt die Schnittgrößen in Bodenplatten erheblich. In der Regel werden sie als Überzüge, die durch Stabelemente modelliert werden, berücksichtigt.
Fallbeispiel 2: Zwei unterschiedlich schwere Gebäudeteile befinden sich auf einer gemeinsamen Bodenplatte (Bild 3). Die aussteifende Wirkung der Seitenwände, die durch Türöffnungen unterbrochen sind, wurde bei der FEM-Berechnung der elastisch gebetteten Platte zwischen den beiden Gebäudeteilen vernachlässigt. Die dadurch ermittelten hohen Beanspruchungen in der Bodenplatte treten in Wirklichkeit nicht auf, da die Seitenwände des steifen Kastens die Verschiebungen der Bodenplatte koppeln. 
 
 
 
Bild 3: Bodenplatte mit Gebäude
 
 
Fallbeispiel 3: Die aufgehenden Wände bei einer als elastisch gebettete Platte berech­neten Bodenplatte wurden als starre Lager in ein FE-Programm eingegeben und die Platte danach bewehrt. Es ergaben sich völlig fehlerhafte Bemessungsschnittgrößen in der Bodenplatte, die quasi als Deckenplatte berechnet worden war, wie z.B. negative Momente unterhalb der Wände und positive Momente in den Feldern. Die statische Unter­­suchung der Platte mußte neu durchgeführt werden.

2.4  Zugbeanspruchungen und abhebende Kräfte

Rechnerische Zugbeanspruchungen der Auflager sind nur möglich, sofern diese durch Auflasten (Wände) überdrückt werden oder entsprechend rückverankert werden. Ist dies nicht der Fall, sind abhebende Auflagerkräfte im Rahmen einer nichtlinearen Berechnung auszuschließen oder die Platte ist drillweich zu berechnen.
 
Fallbeispiel 4: Durch die zu detaillierte Modellierung eines starr gelagerten Deckenvorsprungs wurden hohe abhebende Kräfte erhalten, die nicht durch Auflasten überdrückt wurden (Bild 4). Durch die automatische Lastübergabe des Programms wurden die Auflagerkräfte als vertikal nach oben wirkende Kräfte auf die darunterliegende Decke aufge-bracht, obwohl eine Zuglastübertragung durch die Mauerwerkswände nicht möglich ist. Durch eine vereinfachte Modellierung im Bereich des Vor-sprungs oder u.U. auch durch eine elastische Lagerung hätte der Fehler vermieden werden können.
 
 
 
 
 Bild 4: Detail einer Deckenplatte
 

2.5 Elementdecken

Bei der Bemessung von Fertigplatten mit statisch mitwirkender Ortbetonschicht muß der kleinere innere Hebelarm in der Ortbetonschicht berücksichtigt werden (Bild 4).
 
 
 
 
 Bild 5: Fertigteildecke
 

3. Ergebnisinterpretation

Um die Ergebnisse sinnvoll interpretieren zu können, muß Klarheit darüber bestehen, welche Tragwerksmodellierung zugrunde liegt und welche Schnittgrößen im konkreten Fall von der FEM zuverlässig ermittelt werden und bei welchen dies nicht der Fall ist [1]. Insbesondere muß auch bei Flächentragwerken zwischen B- und D-Bereichen (Stabwerksmodelle), die einer ergänzenden Untersuchung bedürfen, unterschieden werden [2]. Die Berechnungsergebnisse müssen in jedem Fall noch einmal kritisch geprüft und gegebenenfalls ergänzt werden.

3.1 Unterzüge

Bei der Bemessung von Unterzügen auf Biegung und Schub ist es besonders wichtig, den Modellcharakter des berechneten statischen Systems vor Augen zu haben [1]. 
 
Fallbeispiel 5: Ein breiter Unterzug einer Deckenplatte ist korrekt als exzentrischer Balken modelliert worden (Bild 6). Im FE-Modell stellt der Unterzug ein Stabelement (ohne Breite) dar, das zusätzlich zu den Plattenelementen eingefügt wird. Das abzudeckende Gesamtmoment im wirklichen Unterzug setzt sich zusammen aus dem rechnerischen Momentenanteil im Unterzug und dem Momentenanteil in der Platte, bezogen auf den betrachteten Streifen. In der Bewehrungszeichnung wurde allerdings aus-schließlich der Bewehrungsanteil des Balkens eingebaut. Durch die erhebliche Breite des Unterzugs ergab sich in der FE-Berechnung eine fast ebenso große Bewehrung in der Platte, die allerdings noch im Verhältnis der inneren Hebelarme von Platte zu Balken verringert werden kann. Ähnliches gilt für die Schubbewehrung und den Schubspannungsnachweis im Unterzug.
 
 
 
 Bild 6: Breiter Unterzug einer Deckenplatte
 

3.2 Durchstanzen

Der Durchstanznachweis für Stützen bei Flachdecken oder Fundamentplatten sollte mit der Stützenkraft, gegebenenfalls vermindert um die Querkräfte anschließender Unterzüge, geführt werden. Die aus den Plattenquerkräften ermittelten Schubspannungen sind hierfür in der Regel ungeeignet. 
 
Fallbeispiel 6: Eine hohe Einzellast wirkt am Rand einer Bodenplatte. Dieser Plattenbereich ist verstärkt, d.h. die Platte hat am Rand einen Unterzug. Die Einzellast wird in einen Querkraftanteil, der durch den Unterzug abgetragen wird und einen Anteil, der in der Platte wirkt, aufgeteilt. Je nach der Steifigkeit des Randunterzuges verbleibt in der Platte ein durchaus erheblicher Querkraftanteil. Die sich aus diesem Anteil ergebende Durchstanzbewehrung wurde beim statischen Nachweis vergessen (Bild 7). 
 
 
 
 
Bild 7: Bodenplatte mit Randverstärkung
 

3.3 Bemessungswerte und Singularitäten von Schnittgrößen

Die Bemessungspunkte sind an den relevanten Stellen zu wählen und es ist zwischen Punkten mit singulären und Bereichen mit regulären Schnittgrößen zu unterscheiden [1].
 
Fallbeispiel 7: Ein Programm gab nur die (numerisch zuverlässigeren) Schnittgrößen in Element­mitte aus. Da über den Wänden die Elementmitten nicht auf der Wandkante lagen, erfolgte die Bemessung dort für ein falsches, d.h. zu geringes Anschnittmoment. 

3.4 Weitere statische Nachweise, B- und D-Bereiche

Nach der Durchführung einer FE-Berechnung ist zu prüfen, ob weitere, im Rechengang nicht enthaltene statische Nachweise erforderlich sind. Auflager- und Lasteinleitungsbereiche sind häufig Singularitätenstellen und damit typische D-Bereiche, die eine konstruktive Durchbildung mit Stabwerkmodellen erfordern [2]. Bewehrungswerte des FE-Programms dürfen keinesfalls unreflektiert in die Bewehrungspläne übernommen werden.
 
Fallbeispiel 8: In der Deckenplatte einer Tiefgarage wurde ein Versprung als Balken modelliert (Bild 8). Diese Idealisierung gibt im Bereich des Versprungs den wirklichen Kräfteverlauf nicht richtig wieder. Das Programm ermittelt ausschließlich die für die Querkraftbemessung des Balkens erforderliche Bewehrung. Der Einfluß des von unten angreifenden Querkraftanteils der Platte und die Übertragung des Plattenbiegemoments wurden nicht berücksichtigt.
 
 
 
Bild 8:  Deckenversprung 
 

3.5 Verankerungslängen und Versatzmaß

FE-Programme ermitteln keine exakten Zugkraftdeckungslinien und berücksichtigen somit kein Versatzmaß und keine Verankerungslängen. Man darf also die Bewehrung nicht dort enden lassen, wo im FE-Plott die erforderliche Bewehrung endet. 

 

Fallbeispiel 9: Bei einer Deckenplatte mit auskragender Balkonplatte muß die Stützbewehrung mit ausreichender Länge in die obere Lage der Deckenplatte hineingeführt werden (Bild 9).
 
 

Bild 9: Decke mit Balkon

4. Psychologische Aspekte

Psychologische Effekte spielen bei der Computeranwendung, insbesondere bei FE-Programmen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Je komplexer ein Programm ist, desto mehr tendiert der Anwender dazu die Ergebnisse zu glauben, weil er sie nicht mehr ohne weiteres überprüfen kann. Dies gilt verstärkt, wenn Hintergrundkenntnisse über die FEM fehlen.
Statische Berechnungen müssen häufig unter einem enormen Zeitdruck erstellt werden. Dies verleitet dazu notwendige Kontrollen der Berechnung zu unterlassen.
 
Fallbeispiel 10: Eine Bodenplatte wurde aufgrund eines Eingabefehlers mit einem Bettungsmodul von 10000 MN/m3 anstelle von 10 MN/m3 bemessen (Fehlerfaktor 1000!). Der Aufsteller der Statik führte keine Plausibilitätskontrolle durch, weshalb dieser Fehler von ihm nicht erkannt wurde.
Fallbeispiel 11: Ein kastenförmiges Brückenwiderlager wurde mit einem FE-Faltwerkmodell mit dem einseitigen Vekehrslastfall „Stellung eines SLW nahe der linken Flügelwand“, der für die linke Flügelwand bemessungsbestimmend war, berechnet. Der Konstrukteur übernahm die Angaben des FE-Ausgabeprotokolls und bewehrte folglich die linke Flügelwand stärker als die rechte. Er hatte nicht bedacht, daß die FE-Ausgabe nur für die linke Symmetriehälfte gültig war und die rechte Flügelwand aus Symmetriegründen (Stellung des SLW nahe der rechten Flügelwand) identisch wie die linke Flügelwand hätte bewehrt werden sollen. 

5. Programmfehler

Programmfehler treten meist in der Benutzeroberfläche oder bei der Generierung von FE-Daten aus Gebäude-Geometriedaten auf. Sie sind aber auch im Berechnungsteil des Programms nicht auszu-schließen.
 
Fallbeispiel 12: Im Durchlaufträgerprogramm eines renommierten Softwarehauses kam es bei der Änderung der Programmversion dazu, daß der Lastfall ´Einzelmoment im Feld´ fehlerhaft berechnet wurde. Die alte Version dieses Programms berechnete diesen Lastfall noch richtig.
 
Fallbeispiel 13: An einem "schmalen" Deckendurchbruch neben einer Stütze wurde eine Stützbewehrung im Öffnungsbereich berechnet, wobei der Durchbruch als Öffnung eingegeben wurde. Es waren auch im Bereich der Öffnung fälschlicherweise Finite Elemente generiert worden. Eine Vergrößerung der Breite des Deckendurchbruchs führte zu richtigen Ergebnissen.
 
 
6. Fehlerquellen im Büroalltag
Erfahrungsgemäß haben Fehler vor allem folgende Ursachen:
· Zeitdruck
· fehlende Plausibilitätskontrollen
· “Computergläubigkeit“
· nicht ausreichende Beschäftigung mit komplexen FE-Programmen
· Nicht-Bauingenieure (z.B. Mathematiker) führen FE-Berechnungen durch 
· fehlende Durchsicht der gezeichneten Pläne durch einen Ingenieur
· Kommunikationsprobleme (z.B. Urlaubsvertretung)
´der eine verläßt sich auf den anderen´

· Programmierfehler 

· Bei automatischen Programmabläufen geht der Überblick verloren

 

Daß auch Fehler mit schwerwiegenden Folgen gemacht werden können, zeigt der Schadensfall an der Bohrplattform Sleipner A, bei der die fehlerhafte Umsetzung einer Computerberechnung in einen Bewehrungsplan die Ursache für den Untergang war [3].

 

7. Qualitätssicherung von FE-Berechnungen

Die zuverlässige Durchführung einer FE-Berechnungen erfordert eine anschließende Qualitäts­sicherung. Die folgende Checkliste kann hierbei hilfreich sein:
· Wurden die Eingabewerte nochmals sorgfältig geprüft?
· Stimmen die Verformungen und Schnittgrößenverläufe mit dem erwarteten Tragverhalten überein (z.B. auch Symmetriebedingungen)?
· Wurden die Unterzüge richtig modelliert und der Einspanngrad realitätsnah angesetzt?
· Wurden (nachträglich) Isokörbe eingebaut, die die Bewehrung beeinflussen?
· Wurde die Gebäudesteifigkeit bei Bodenplatten sinnvoll modelliert?
· Ist die FE-Diskretisierung an allen maßgebenden Stellen ausreichend fein?
· Sind die Bemessungspunkte an allen maßgebenden Stellen sinnvoll gewählt?
· Treten nicht übertragbare Zugspannungen oder abhebende Kräfte auf?
· Wurde an Unterzügen die Überlagerung mit den Plattenschnittgrößen bei der Biege- und Schubbemessung berücksichtigt?
· Wurden alle erforderlichen Durchstanznachweise geführt, auch an Stützen mit Unterzügen?
· Wurden singuläre Stellen richtig und sinnvoll bemessen?
· Wurden alle D-Bereiche konstruktiv richtig bewehrt? Maßgebende Stellen sind:
* Lasteinleitungsbereiche (Aufhängebewehrung u.a.)
* Auflager
· Sprünge und Knicke im Querschnitt (Bewehrung zur Lastumleitung)
· Sind Verankerungslängen und Versatzmaß berücksichtigt?
· Wurden die erforderlichen Nachweise für den Gebrauchzustand (zulässige Durchbiegung, Rissesicherheit) geführt?
 
Die computerunterstützte Tragwerksplanung kann nur dann ein wirkliche Hilfe für den Tragwerksplaner sein, wenn bei aller Informationsfülle im Detail die wesentlichen Elemente des Tragverhaltens überschaubar bleiben und damit die statische Untersuchung vom Tragwerksplaner auch verantwortet werden kann. 

 

 

 

 

 

Literatur

 

[1] Werkle, Horst, Finite Elemente in der Baustatik, Teil 1: Lineare Statik der Stab- und Flächentragwerke, Vieweg, Wiesbaden, 1995

[2] Schäfer, Kurt, FE-Berechnung oder Stabwerksmodelle?, Finite Elemente in der Baupraxis, Ernst & Sohn, Berlin, 1995

[3] Reineck, Karl-Heinz, Der Schadensfall Sleipner und die Folgerungen für den computerunterstützten Entwurf von Tragwerken aus Konstruktionsbeton, Finite Elemente in der Baupraxis, Ernst & Sohn, Berlin, 1995

 

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